Wir unterscheiden vier Stilphasen: an die Frühgotik (z.B. Laon) mit einfachen Spitzbogenfenstern schließt sich die klassische Gotik an (Chartres [negatives Maßwerk] und Reims etwa [eigentliches Maßwerk]), die in den Rayonnant-Stil mit seinem Maßwerk in Strahlenform übergeht und vom spätgotischen Flamboyant mit Fischblasenmuster abgeschlossen wird.
Verschiedene Bauelemente durchlaufen eine gewisse Evolution, aber am Fenster mit seinem Maßwerk lassen sich die diversen Stilphasen am einfachsten erkennen, weshalb wir uns diesen zuwenden wollen. – An den Beispielen wird auch erkenntlich, daß Sie nicht selten an ein und derselben Kirche mehrere Stile wiederfinden.

Das Maßwerk („gemessenes Werk“, nämlich mit Zirkel) im eigentlichen Sinn wurde zwar in den 20er Jahren des 13. Jahrhunderts an der Bauhütte zu Reims erfunden, wir gehen in der Zeitleiste aber trotzdem weiter zurück, weil es beim Spitzbogenfenster auch vorher Veränderungen gegeben hat, die Ihnen (wir beschränken uns auf Frankreich!) die chronologische Einordnung nicht schwer machen.
Stilphase 1: Frühgotik

- Phase: einfaches Spitzbogenfenster (Bsp.: St. Denis bei Paris; St. Remi in Reims, s. Abb. unten), Frühe Gotik (1135-1190):
Es beginnt mit einem einfachen Spitzbogenfenster, dann werden zwei oder drei zu einer Gruppe verbunden, erscheinen schließlich als Lanzettfenster nur noch durch einen Stab getrennt und von einem weiteren Bogen umfangen; der so entstehende Zwickel drüber wird schließlich durchbrochen durch einen Oculus, der dann ausgestaltet wird (> negatives Maßwerk).


Stilphase 2: klassische Gotik I
- Phase: sogenanntes „negatives Maßwerk“ (Bsp.: Chartres),
Klassische Gotik 1 (1190-1220):

Der Ausdruck „negatives“ Maßwerk rührt, so meine Vermutung, daher, daß es quasi wie das Negativ wirkt zum Positiv des Reimser Maßwerks. Beim Positiv werden in das frühgotische Spitzbogenfenster gezirkelte Stäbe eingefügt, beim Negativ werden aus der Steinplatte Formen ausgestanzt,

wie beim Plätzchenbacken vor Weihnachten; daher liest man für diese Vorform bisweilen auch ‚Plattenmaßwerk’, der Rest wird aufgemauert.
Stilphase 3: klassische Gotik II

- Phase: Reimser Maßwerk in seiner Urform (Bsp.: Reims), Klassische Gotik 2 oder Hochgotik (1220-1260):
An der Reimser Bauhütte kommt es Anfang des 13. Jhdt. zur Ausbildung des eigentlichen Maßwerks.
Stilphase 4: Rayonnant-Gotik

- Phase: Rayonnant-Maßwerk (Bsp.: Paris, Amiens), Rayonnant-Gotik oder reife Gotik (1260-1350/80): Seinen Namen leitet diese Stilphase vom französischen ‚rayon’ Strahl bzw. ‚rayonner’ (aus-)strahlen ab. Fensterrosen aus dieser Zeit sind gerne in radial ausstrahlende Bahnen aufgeteilt.
Westrose der Kathedrale von Amiens.



Stilphase 5: Spätgotik
- Phase: Flamboyant-Maßwerk (Bsp.: Beauvais), Flamboyant-Gotik oder Spätgotik (1350-1520).
Die Franzosen assoziieren mit den Spätformen Feuerzungen bzw. Flammen, daher der Name (bei uns lebt dieses Wort in der Küchenkunst: flambieren). In der deutschen Kunstgeschichte erinnerten diese Formen eher an – na ja, an Fischblasen. Sie dürfen für Ihren Sprachgebrauch einen der beiden Ausdrücke bevorzugen oder beide gebrauchen. Jedenfalls wurden allüberall in Europa die Formen der Spätgotik, auch am Gewölbe, immer verspielter, filigraner. Der Zeitgeschmack ändert sich; seine Qualität auch. Jedenfalls konnten die Handwerker ihr ausgetüffteltes Können zeigen.





Abhänglinge in der Vorhalle des südlichen Portals der Bischofskirche St. Cäcilia von Albi, Süd-frankreich.