Am 11. Juni 1144 weiht Abt Suger den erneuerten Chor der Abteikirche St. Denis nördlich von Paris, der Hauptstadt des noch kleinen königlichen Frankreichs. Geladen waren viele kirchliche Würdenträger, die Bischöfe der umliegenden Diözesen, insbesondere besagter Krondomäne, und die Großen der Politik. In einer langen Prozession zogen sie und das Volk zum Weihegottesdienst in die erneuerte Kirche dieser ehrwürdigen Abtei ein, die auch die Gräber vieler Könige seit der Merowinger Zeiten beherbergt. Und nun schlägt sie alle in ihren Bann. Niemals zuvor hatten sie solches geschaut, erfahren, bewundert.
Diese Weihe wurde quasi zu einer Initialzündung. Es war (wenn man so will) die Geburtsstunde der Gotik, die in den folgenden Jahrzehnten sich weit über die Grenzen des faktischen Herrschaftsgebietes des französischen Königs hin ausdehnte – bis weit hinaus in ein Europa der vielen Völker, die trotz vielerlei Konflikte in einem gemeinsamen Glaubens- und Kulturraum zusammenlebten.
Grenzüberschreitend ist die gotische Kathedrale bis heute: Menschen unterschiedlicher Sprache und Herkunft, unterschiedlichen Alters und verschiedener Überzeugungen kommen zu ihr und bei ihr zusammen; Menschen in all ihrer Vielfalt bleiben vor ihr stehen und geraten ins Staunen über die ingenieurtechnischen Leistungen und künstlerischen Innovationen dieser versunkenen Welt, über die schiere Größe ihrer Bauten und die lebendigen Farben der Fenster, vielleicht auch über ihre geistige Weite und Tiefe, über ihre gläubige Reife und den leidenschaftlichen Eifer, der uns hier auch begegnet.
Die Texte und Bilder, die Sie hier unter www.gotische-kathedrale.eu finden, wollen Ihnen helfen, die Grenzen des Hier und Jetzt zu überschreiten auf dem Weg hin zu jenem Phänomen, das offenbar bereits eine Faszination auf Sie ausübt. Diese Faszination teile ich seit langem mit Ihnen – und es würde mich freuen, sie zu vertiefen und zu weiten.

Begriff der Gotik
Der Begriff GOTIK ist gar nicht so neutral, wie er heute wirkt. Eigentlich ist er ein Schimpfwort: more gotico meint soviel wie „nach Art der Barbaren“. Das Wort kommt aus dem Italienischen, und dieser neue Baustil entspricht so gar nicht dem italienischen Geschmack. Tatsächlich ist die Gotik der erste eigenständige Baustil des Abendlandes – ohne Herleitung aus der römischen Antike (wobei nicht übersehen werden darf, daß sie aus der Romanik hervorgeht und in der Statuarik sich sehr wohl auch auf antike Vorbilder bezieht). In Italien konnte sich dieser Stil aus dem Norden nie richtig festsetzen. Was kann vom Norden auch schon Gutes kommen? Das Trauma der auf Rom vordringenden germanischen Goten reichte bis in die Zeit der italienischen Renaissance. Giorgio Vasari (1511-1574) war es, der diese Sprachwendung zur Bezeichnung und Identifikation unseres schönen Baustiles geprägt und damit eben seine Geringschätzung der gotischen Baukunst überhaupt ausgedrückt hat, im Vergleich nämlich mit dem Maßstab einfachhin, dem goldenen Zeitalter – und das ist ohne Frage und immer wieder die Antike (oder was man jeweils dafür gehalten hat).

Die andere italienische Bezeichnung maniera tedesca (deutsche Manier) weist uns darauf hin, daß in der Tat die Gotik in der Neuzeit in der Regel als ein Baustil deutschen Ursprungs wahrgenommen wurde. Auch hier dauerte es, bis sich die scientific community eines Besseren besann – bzw. sich die Erkenntnis allgemein durchsetzte, daß dem nicht so ist. Der Ursprung des gotischen Baustils liegt bei der Schwester: im heutigen Frankreich. Kein kleiner Grund, gerne nach Frankreich zu reisen.
Geschichtliches
Die Anfänge jener Baukunst, die wir die gotische nennen, liegen in den 40er Jahren des 12. Jahrhunderts, in einer dynamischen Zeit. Wir müssen nach Franzien schauen, also in den Norden jenes Landes, das wir heute Frankreich nennen, in die Ile-de-France. Nördlich der Hauptstadt dieses territorial zusammengeschrumpften Königreichs (Krondomäne) wirkte ein in mancherlei Hinsicht bedeutender Mann, Suger mit Namen, als Abt und Reichsverweser. Seine Bedeutung war nicht nur seiner persönlichen Kompetenz zuzuschreiben, sondern auch seinem Amt: er war Abt der Königsabtei von Saint Denis, die in der späten Merowingerdynastie zur königlichen Grablege wurde.
Richtig ahnen konnte freilich selbst ein Abt Suger nicht, welche Bewegung er und sein Baumeister in Gang setzen sollten, als sie den Chor der Klosterkirche erneuerten. Innerhalb nur einiger Jahrzehnte setzte diese neue Weise des Bauens zu einem Siegeszug sondergleichen an und brachte vor allem Kirchenbauten hervor, die alles bisher Gewesene überflügelt haben, vor denen selbst wir modernen skyscraper-Menschen noch mit offenem Mund stehen bleiben.
Zunächst verbreitete sich die Gotik in der Krondomäne (Franzien), schnell aber sprang der Funke auch auf England über, dann auf Deutschland, drang (mit der Macht des Königs) auch in den Süden Frankreichs vor und verbreitete sich in (fast) ganz Europa.
Stilkunde: Merkmale der Gotik
Gotische Kirchen können Sie sofort an unterschiedlichen Merkmalen erkennen:
- der flexible Spitzbogen, das bekannteste und eindeutigste Merkmal (vor allem spitzbogige Fenster)
- das die Wand öffnende Kreuzrippengewölbe
- das Strebewerk (mit Ausnahme etwa der Backsteingotik)
- die zweischalige, sog. diaphane Wand
- der hochaufstrebende Vertikalismus
- die Joche im selben Maß
- das Triforium
- der Chorumgang
- die Westfassade – als Doppelturmfassade ausgebildet
Das ganze Erscheinungsbild einer gotischen Kirche unterscheidet sie von einer romanischen. Darüber aber sollte man nicht übersehen, daß etliche jener Architekturmotive und –formen gegen Mitte des 12. Jahrhunderts schon bekannt waren: im romanischen 11. Jahrhundert waren sie vor allem an den Sakralbauten der Normandie und Burgunds entwickelt worden.
Manche dieser Bauelemente machen eine bestimmte Entwicklung durch. Dementsprechend teilt man die gotische Baugeschichte in mehrere Phasen ein (hier am Beispiel des französischen Kirchenbaus):
- 1. Phase: Frühe Gotik (1135-1190): einfaches Spitzbogenfenster (Bsp.: St. Denis bei Paris; St. Remi in Reims)
- 2. Phase: Klassische Gotik 1 (1190-1220): sogenanntes „negatives Maßwerk“ (Bsp.: Chartres)
- 3. Phase: Klassische Gotik 2 oder Hochgotik (1220-1260): Reimser Maßwerk in seiner Urform (Bsp.: Reims)
- 4. Phase: Rayonnant-Gotik oder reife Gotik (1260-1350/80): Rayonnant-Maßwerk (Bsp.: Paris, Amiens)
- 5. Phase: Flamboyant-Gotik oder Spätgotik (1350-1520): Flamboyant-Maßwerk (Fischblasenmuster) (Bsp.: Beauvais)
Bei aller Vorsicht gegenüber Phasenfestlegungen kann man – natürlich zeitverschoben – für Deutschland folgende Einteilung finden: Frühgotik (1235-1250), Hochgotik (1250-1350), Spätgotik (1350-1520).