Die dynamische Zeit eines Abt Suger rund um das 12. Jahrhundert ist der unseren gar nicht so unähnlich – und doch auch wieder sehr verschieden. Dem Mittelalter ging es beispielsweise nicht um Originalität, ganz im Gegenteil. Nicht Neuheit war das Leitbild oder Fortschritt egal wohin, sondern man strebte danach, die ursprünglichen „Prinzipien“, die tradierten Sinngehalte besser zu erfüllen. Abt Suger war ein Mensch der Romanik, der nicht, um originell zu sein und in die Baugeschichte Europas einzugehen, einen neuen Baustil kreieren wollte. Suger wollte nicht etwas Neues wegen des Neuen schaffen. Er wollte vielmehr das Alte so zum Ausdruck bringen und gestalten, daß es besser zur Geltung komme. Er wollte die eigentliche unvergängliche Wahrheit des Kirchenbaus noch trefflicher Gestalt werden lassen. Offenbar gelang ihm das, meinte jedenfalls ein Großteil Europas – und griff Sugers Bauweise auf. Doch bemerkenswert bleibt wie gesagt: Die wesentlichen Bauelemente der Gotik sind alle romanisch bzw. aus romanischer Zeit!
Eine gotische Kathedrale ist also eingebettet in eine weite Wegstrecke des Menschen. Darum auch erzählt sie uns nicht nur etwas über künstlerische Schulen oder Heiligenleben! Sie erzählt auch über dieses Netzwerk des menschlichen Seins mitsamt all der handwerklichen und (finanz-)wirtschaftlichen Grundlagen. Stumm zwar, doch für den aufmerksamen Zuhörer unüberhörbar. Wirtschaftliche und (kunst-)handwerkliche Entwicklungen greifen mit verschiedenen gesellschaftlichen und geistigen Prozessen ineinander!
Doch wie ist es nun gebaut worden, das gotische Gotteshaus? – Jedenfalls nicht von vorne nach hinten. Nein, in der Regel wird von Osten nach Westen gebaut, vom Chor in Richtung Eingang. Mit dem Eingang wird der Bau abgeschlossen. Das, was uns als Anfang vorkommt, ist eigentlich das Ende – und das Ende der Anfang. Aber darauf komme ich an anderer Stelle zu sprechen [„Kathedrale als Symbol“].
Und gebaut worden ist es natürlich auch von unten nach oben. Fangen wir damit an.