Ausbreitung

in Frankreich

Noyon
Die Kathedrale von Noyon.

Zunächst einmal griff der Virus des Baufiebers im Stil von St. Denis auf die Ile-de-France und die angrenzenden Regionen der Picardie und der Champagne über. Wenige Jahre nach der Chorweihe wird der Grundstein zur frühgotischen Bischofskirche von Noyon gelegt; für diesen Zeitraum der 1140er Jahre zu nennen sind auch der Neubau der Kathedrale von Sens und Senlis südöstlich bzw. nördlich von Paris sowie die Erneuerung der Abteikirche St-Germain-des-Prés in Paris nach dem Vorbild von Saint Denis. Es folgen Laon, der Klassiker der Frühgotik (1135-1190/1200), berühmt durch seine Ochsen und weithin sichtbar durch seine wunderbare Hügellage nördlich von Reims, 1163 dann die fünfschiffige (!) Notre-Dame von Paris (erste Bauphase) und schließlich 1180 die Kathedrale von Soissons.

Die Kathedrale von Sens.
Die Kathedrale von Sens.
Laon.
Laon.

 

 

 

 

 

Auch in Reims als der Stadt der Krönung des französischen Königs wurde das neue Vorbild angewendet und Altes mit Neuem verbunden, d.h., das Alte wurde nicht als überholt erachtet. Im Gegenteil ging es nicht um das Neue (einen Fortschritt egal wohin), sondern um das Alte, das als bleibend verbindlich und verbindend erachtet wurde:
das Neue sollte das Alte wirklich erneuern und bewahren!

Die Westfassade der Abteikirche St. Remi in Reims.
Die Westfassade der Abteikirche St. Remi in Reims.

Architektonisch zum Ausdruck gebracht wurde das auch an der Reimser Kathedrale – und zwar, indem das Langhaus bewahrt und von einer Fassade und einem Chor im neuen Stil eingefaßt wurde. Durch den hochgotischen völligen Neubau ist uns davon nichts mehr erhalten, wohl aber ist unweit davon diese Situation in der wunderschönen Abteikirche St. Remi erlebbar, die mindestens so sehr einen Besuch wert ist wie die Kathedrale. Hier begann im übrigen die feierliche Prozession zur Krönung des neuen Königs in der Kathedrale.

Reims, St. Remi.
Reims, St. Remi.
Reims, Der vierzonige Chor von St. Remi.
Reims, Der vierzonige Chor von St. Remi.

 

 

 

 

 

In der frühen Zeit der Gotik ist der Kirchenbau stilistisch eher heterogen, in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts bemerken wir eine zunehmende Tendenz zu einer immer einheitlicheren Formenwelt.
Die französische Hochgotik (1195-1260) wird dann eingeläutet durch eine der schönsten und am meisten bewunderten Kathedralen überhaupt, der von Chartres (vorbereitet durch Soissons). Neben dieser kommt der von Reims (* 1211) sowie der von Amiens eine besondere Stellung in der Evolution der Gotik zu. In deren Bauverlauf allerdings hat sich 1248 das Blatt gewendet: an die Stelle hochgotischer Formen tritt die Rayonnant-Gotik (1260-1380) mit einem feingliedrigeren Maßwerk.

Bourges, Portalzone der Westfassade (vor der Reinigung und Sanierung).
Bourges, Portalzone der Westfassade (vor der Reinigung und Sanierung).

Die Kathedrale St. Etienne in Bourges (1200 – 1260) markiert die Ausbreitung der Gotik über die Kernlandschaften Nordfrankreichs hinaus. In Burgund stoßen wir vor allem in den Städten Auxerre und Dijon auf Gotik, nachdem sie zuvor schon in der Zisterzienserkirche von Pontigny

Pontigny, Gesamtansicht.
Pontigny, Gesamtansicht.

und beim Neubau des Chores von Vézelay dort Einzug gehalten hatte.

Der Auvergnate Jean Deschamps baute Kirchen im Gefolge der klassischen Kathedralgotik Nordfrankreichs in Clermont-Ferrand, Bayonne und Narbonne. Ansonsten blieb man im Süden eher der Romanik verbunden.

Beauvais, Chor.
Beauvais, Chor.

Mit der unvollendet gebliebenen Kathedrale von Beauvais (ab 1238) ist der Übergang der Hochgotik in die Rayonnant-Gotik (1260-1380) abgeschlossen.

Als weitere bedeutende Bauten dieses Epochenabschnittes der Gotik sind zu nennen: das Langhaus von Saint-Denis (1231-1281) sowie die weithin bekannte Sainte-Chapelle von König Ludwig IX., dem Heiligen, in der Cité von Paris.

Mit der Sainte-Chapelle konnte die Gotik im Kronland noch einmal ein großes Ausrufezeichen setzen, ein letztes Mal. Danach bringt sie in architektonischer Hinsicht nichts Neues, sondern verliert sich in immer verspielteren Formen insbesondere im Maßwerk und in den Gewölbeformen.

Maßwerk mit Fischblasenmuster eines Fensters von St. Gatien in Tours.
Maßwerk mit Fischblasenmuster eines Fensters von St. Gatien in Tours.

Bei dieser letzten Phase der französischen Gotik spricht man von der Flamboyant-Gotik (1360/80-1550).

Spätgotisches Südportal von St. Remi, Reims.
Spätgotisches Südportal von St. Remi, Reims.

Allgemein bekannt ist diese Zeit der französischen Gotik ja auch für ihren olympiareifen Eifer, immer noch höher und gewagter zu bauen, bis in Beauvais das Maß überzogen wurde. Die Kathedrale von Beauvais konnte übrigens nie fertiggestellt werden; Teile des Gewölbes, später der Vierungsturm stürzten ein – bis heute sind die Bauteile einsturzgefährdet und sicherungsbedürftig.

 

über Frankreich hinaus in Europa

Bald schon greift die Gotik auf andere Landschaften über, nicht nur innerhalb Frankreichs, sondern auch weit darüber hinaus – denn überall dort wird ja demselben Gott derselbe Lobgesang dargebracht und man will es dem je größeren Gott auf je schönere Weise tun. Bei der Einweihung des Chores von St. Denis war unter den vielen Bischöfen auch der Erzbischof aus Canterbury von jenseits des Ärmelkanals.
Bereits 1174 beginnt man dort nach einem schweren Brand die Kathedrale im neuen Baustil der Ile-de-France neu zu errichten. Die Engländer beriefen dazu Wilhelm aus Sens. Daß die Gotik als erstes auf England übergriff, hat unter anderem auch damit zu tun, daß die Normandie (einst eroberte der normannische Herzog Wilhelm der Eroberer 1066 die Insel) unter englischer Herrschaft stand, als dort die ersten Kirchen im nachbarlichen Stil des französischen Königs erbaut worden sind. England sollte später seine ganz eigenen, teils faszinierenden Wege gehen. Die Kunstgeschichtler unterscheiden hier mehrere Phasen: das Early English (1175-1260) beginnt mit dem Neubau der Kathedrale von Wells 1180; Westminster Abbey läutet den Decorated Style (1250-1350) ein, der sich – wie der Name sagt – vor allem durch neue Weisen der Ornamentierung auszeichnet, insbesondere mittels des Maßwerkes und der kunstvollen Gestaltung der Gewölbe. Darauf folgt in Gegenbewegung zum überbordenden Formenreichtum ab 1340 schließlich der Perpendicular Style (1330-1560).

Mailänder Dom, Teilansicht, begonnen 1387 (Fotowiedergabe mit freundlicher Genehmigung von Andreas Schmid).
Mailänder Dom, Teilansicht, begonnen 1387 (Fotowiedergabe mit freundlicher Genehmigung von Andreas Schmid).

Spanien und Italien wurden von der französischen Gotik nur teilweise berührt.
In Italien ist der gewaltige Mailänder Dom ein Einzelfall geblieben (Oberitalien gehörte zum Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation). Ansonsten finden wir hier – wie bereits erwähnt – allenfalls „italienisierte“ Formen der Gotik.

Dom zu Siena. Der romanische Dom wurde in der 1. Hälfte des 13. Jhdt. umgebaut. (Foto-wiedergabe mit freundlicher Genehmigung von Andreas Schmid)
Dom zu Siena. Der romanische Dom wurde in der 1. Hälfte des 13. Jhdt. umgebaut. (Fotowiedergabe mit freundlicher Genehmigung von Andreas Schmid)

 

 

Zu verdanken ist dies nicht zuletzt dem französischen Orden der Zisterzienser (aus Burgund); sie importierten darum eine eher an der burgundischen Spätromanik orientierten Variante, und das wiederum war für italienisches Empfinden eher annehmbar und nicht zu weit entfernt vom eigenen Bauen.

 

Erheblich anders, nämlich früher, intensiver und vielfältiger, verlief die Rezeption nordfranzösischer Gotik im nichtmaurischen nördlichen Spanien. Das ist der geographischen und geschichtlichen Nähe der beiden Länder zu verdanken, was kontinuierlich bis in römische Zeiten zurückreicht. Auch waren auf dem Camino nach Santiago de Compostella insbesondere französische Pilger unterwegs. Und die neuen Könige der verschiedenen nordspanischen Reiche suchten stets den Anschluß an die französische Kultur.
Erste Einflüsse sind schon an der Kathedrale von Santiago zu bemerken und an manch anderen Bauten bis hinüber nach Portugal, aber erst mit den zwanziger Jahren des 13. Jahrhunderts setzt die Gotik richtig ein: bekannt sind die großartigen Kathedralen etwa von Burgos (begonnen 1221), Toledo (begonnen 1222/23) und León (begonnen 1255) oder weiter südlich Sevilla.

Der frühgotische Zentralbau der Liebfrauenkirche zu Trier.
Der frühgotische Zentralbau der Liebfrauenkirche zu Trier.

Deutschland blieb noch eine Zeit lang der Romanik verpflichtet, die aber doch frühgotische Elemente integrierte wie im Limburger Dom (nach 1175) oder im Zisterzienser(!)kloster Maulbronn (nach 1200). Der Magdeburger Dom (ab 1209) steht im Übergang zur Gotik, die erst in der späten Stauferzeit mit der Trierer Liebfrauenkirche (ab 1230) (zum Erzbistum Trier gehörten damals noch innerhalb der Reichsgrenzen die lothringischen Diözesen Toul, Verdun und Metz, so daß es unmittelbar an die Champagne anschloß!) und der Marburger Elisabethkirche (ab 1235) voll zur Geltung kommt. Ebenfalls ab 1230 wurde das Langhaus des Freiburger Münsters gotisch umgebaut.

 

Im oberrheinischen Straßburg begann man 1240, an den romanischen Chor mit Querhaus sogleich das Langhaus im neuen Stil zu errichten; berühmt aber ist diese Kirche nicht zuletzt wegen seiner Westfassade (ab 1277). „Mit dem 1248 begonnenen Kölner Dom fand Deutschland den Anschluß an die französische Hochgotik“ (wikipedia, Art. Gotik); er entstand in Anlehnung an Amiens.

Dom St. Peter zu Regensburg.
Dom St. Peter zu Regensburg.

„Als einziger Bau in Bayern nach französischem Kathedralschema wurde um 1285/90 der Regensburger Dom nach dem Vorbild von St. Urbain in Troyes begonnen.“ (wikipedia, Art. Gotik)

Im deutschen Teil, wenn man so sagen will, des Hl. Römischen Reiches entwickeln sich, wie anderswo auch, bestimmte Sonderformen: zum Initialbau der bekannten Backsteingotik in Norddeutschland und im Ostseeraum wurde die Lübecker Marienkirche (1250–1350 ), indem man einfach auf lokales Baumaterial zurückgriff.

Münchner Frauenkirche als letztes Beispiel süddeutscher Hallengotik der Wittelsbacher, auch aus Backstein.
Münchner Frauenkirche als letztes Beispiel süddeutscher Hallengotik der Wittelsbacher, auch aus Backstein.

Charakterisiert sind solche Sonderwege neben dem anderen Baumaterial auch durch ein schlichteres Äußeres, durch den „Verzicht auf aufwendige offene Strebesysteme, eine Vereinfachung der Grundrisse und eine Bevorzugung der Hallenbauweise, bei der auch Elemente der Kathedralgotik wie Chorumgänge, Kapellenkranz und Triforium entfallen können“ (wikipedia, Art. Gotik). Von ‚Halle’ spricht man im Sakralbau, wenn die Seitenschiffe und das Hauptschiff auf gleicher Höhe einjustiert werden.

Bei aller Vorsicht gegenüber Phasenfestlegungen kann man für Deutschland folgende Einteilung finden: Frühgotik (1235-1250), Hochgotik (1250-1350), Spätgotik (1350-1520).

Backstein gibt es nicht nur in Süddeutschland: Die mächtige Backsteinkirche (und wohl eine der größten Europas) St. Cäcilia in Albi (1282-1390), Südfrankreich. Sie wirkt mit ihren bis zu 6 m dicken Mauern von außen wie eine Wehrkirche.
Backstein gibt es nicht nur in Süddeutschland: Die mächtige Backsteinkirche (und wohl eine der größten Europas) St. Cäcilia in Albi (1282-1390), Südfrankreich. Sie wirkt mit ihren bis zu 6 m dicken Mauern von außen wie eine Wehrkirche.

Resümee: „Auch außerhalb der Krondomäne, die sich im Laufe der Zeit beträchtlich vergrößert hatte, begann man im 13. Jahrhundert in ganz West- und Mitteleuropa, die französische Kultur und besonders den Pariser Hofstil Ludwigs des Heiligen als vorbildlich anzusehen. Man versuchte nicht nur die Kleidermode, das Zeremoniell und die Dichtung Frankreichs zu imitieren, sondern genauso dessen Architektur. Spätestens seit der Mitte des 13. Jahrhunderts war die Gotik damit ein europäischer Stil. Freilich ist zu bemerken, daß ihre Architektur nicht in allen ihren Spielarten als vorbildlich galt, sondern zumeist nur in der Pariser Variante“ (Klein, Beginn und Ausformung der gotischen Architektur, in: Toman (Hrsg.), Die Kunst der Gotik, S. 80f).