Grundlagen
Die Karriere einer Kathedrale führt zunächst nicht nach oben in die Höhe, sondern nach unten! Die Fundamente müssen gelegt werden – und zwar sehr solide und möglichst exakt. Das Volumen an Steinen, das Sie überirdisch bewundern, liegt nicht selten auch unterirdisch dem Ganzen zugrunde. Und da kann man später nicht viel nachbessern. Da muß unten alles stimmen, damit sich die Linien oben im Gewölbeschlußstein wieder treffen! Das alles mit ein paar geknoteten Seilen und Senkblei. Ohne Lasertechnik, ohne ausgeklügelte statische Berechnungen, ohne hochentwickelte Materialkunde!
„Die Grundmauern der großen Kathedralen liegen bis zu 10 Metern tief in der Erde, so tief wie eine normale Pariser Metrostation, und bestehen in manchen Fällen aus ebenso vielen Steinen wie der über der Erde liegende Teil der Kathedrale“ (Jean Gimpel, Die Kathedralenbauer, S. 5)!

Was da an Steinblöcken herausgearbeitet und herangekarrt wird, übersteigt unser Vorstellungsvermögen. „In einem Zeitraum von drei Jahrhunderten – von 1050 bis 1350 – wurden in Frankreich mehrere Millionen Tonnen Steine für den Bau von 80 Kathedralen, 500 großen Kirchen und einigen zehntausend Pfarrkirchen gehauen. Das bedeutet, daß im Frankreich jener drei Jahrhunderte mehr Steine hin- und hergekarrt wurden als zu irgendeiner Zeit im alten Ägypten – und das, obwohl die Große Pyramide allein einen Raum von 2.500.000 m3 einnimmt“ (Jean Gimpel, Die Kathedralenbauer, S. 5).
Die Kathedrale ruht aber noch auf ganz anderen Fundamenten. Vergessen wir nicht: Es muß auch die Handwerker geben, die Auftraggeber, die Beter, die kleinen und großen Finanziers, die Organisationstalente, die Familien und Bauern im Hintergrund. All das gehört auch zur Grundlage eines solchen Großprojektes.

Und so wie sich der Baukörper ausdifferenzierte, so formten sich im Laufe der Zeit auch die Berufe und deren Werkzeuge aus – rund um den Stein, das Holz, die Metalle, die Erde, das Wasser und all die Materialien (nicht zu vergessen die geistigen Kapazitäten), die der Schöpfer dem Menschen in seiner Schöpfung zur Verfügung stellte, daß er sie bebaue und hüte und forme (vgl. Gen 2,15).
Am Anfang steht der Chor
Ist das Fundament gelegt, kann darauf aufgebaut werden. Wir erinnern uns: dieser Bau ist kein Museum, er wurde auch nicht unter Mühen errichtet, damit Jahrhunderte später Kunsthistoriker sich damit beschäftigen können; er ist und sollte sein eine Kirche. Und damit der neue Kirchenbau sobald wie möglich seinem Sinn gemäß leben kann, damit also das fortwährende Gotteslob erklingen kann, beginnt man den Bau in aller Regel im Osten: als erstes bemüht man sich, den Chor fertigzustellen. Hier vollziehen die Chorherren (die Priester an der Kathedrale) das tägliche Gotteslob, das Chorgebet. Dort bringen sie am Altar das Meßopfer dar. Die Gläubigen wollen kommen, um Gott Dank und Bitte vorzutragen: Der Sinn der Kirche ist, Gottesdienst zu feiern.

Das Quer- und das Langhaus
Nach dem Bau des Chores folgen Querhaus und Langhaus. Mitten auf dem leeren Platz der Baustelle werden nun also deren Pfeiler einzeln hochgezogen (vgl. oben Maillezais) – dort, wo man sonst nämlich die Wände (Mauern) vermutet. Und so gewärtigen wir, noch bevor sie ihre Krönung im typisch gotischen Spitzbogen finden, DIE Errungenschaft der Gotik überhaupt, worin sie freilich die Vollendung der Romanik ist!, nämlich – die Lücken. Etwas kunstverständiger spricht man von der „Auflösung der Wand“.

Wir erleben den eigentlichen metaphysischen Status der Kirchenwand: Sie ist Licht. Denn natürlich löst sie sich nicht auf: die Wand wandelt sich: sie wird das, was sie eigentlich schon immer war, was man nur nicht bauen konnte: sie wird Licht, Transparenz, durchscheinende Materie! – So wollte man Kirche eigentlich immer schon bauen. [„Kathedrale als Symbol“]

Technisch erreicht haben das die Baumeister des leuchtenden Mittelalters im Wesentlichen durch den Spitzbogen bzw. durch seine Transposition ins Dreidimensionale, das spitze Kreuzgrat- bzw. dann das Kreuzrippengewölbe. Im Verbund damit hat eine andere konstruktive Neuerung diese Verwandlung der massiven Steinwand ermöglicht: das Strebewerk, das als anderes typisches Merkmal der Gotik gilt. [„Bauelemente“]
Die Krönung: Dach und Gewölbe
Nun muß der ganze hochstrebende Bau noch stabilisiert und auch vor Regen geschützt werden: Dach und Gewölbe bekrönen das Schiff.
Joch um Joch muß das Langhaus eingewölbt werden. Die Arbeiter befinden sich rund 30 bis 38 m über dem Erdboden. Zuerst aber muß der Dachstuhl in solchen Höhen konstruiert werden: die damit verbundenen Herausforderungen kann man sich ausmalen.
Sobald das Dach einigermaßen unter Dach und Fach gebracht war, konnten die Bauarbeiter mit der Einwölbung beginnen, eine Meisterleistung der besonderen Art – und das war, wenn man in die Kunstgeschichte zurückschaut, gar keine Selbstverständlichkeit.

Währenddessen konnten die Steinmetze und Bildhauer teils anfangen, an ihren Kapitellen, am Maßwerk der Fenster, an Skulpturen für Gewände, Bogenfelder und Bogenläufe zu arbeiten. Doch auch die Glasbläser und –maler zeigten sich nicht untätig.
Ihre Arbeit erfordert gleichfalls große Sorgfalt, hohe Handwerkskunst und enge Zusammenarbeit mit dem Auftraggeber bzw. jenen Geistlichen, die das theologische Bildprogramm verantworten, sowie mit den anderen Gewerken. Denn der Steinmetz, der Bildhauer, der Glasmaler sind zwar Meister ihres Fachs und von großer Kunstfertigkeit, aber das Mittelalter spricht sie als Handwerker (bzw. artifex, Magister u.a.) an.

Gerade hier an den Glasmalereien und bei den Skulpturen und Reliefs zeigt sich der faszinierende Genius des Mittelalters.

Was muß das für ein Mensch gewesen sein, der den hl. Martin am Südportal von Chartres geschaffen hat? Welche Innerlichkeit! Welche Innen- und Ausdruckskraft!
Auch im Kirchenbau wird weitergewerkelt: Die Gipser verkleiden Wände und Gewölbe, damit die Wandmaler Architekturlinien auftragen und neue ebenmäßige Steinkonturen aufzeichnen können.

Der Boden wird mit Steinplatten gedeckt, auch beim Legen des Labyrinthes verwenden die Steinleger verschiedenfarbige Steinplatten.
So wird die Kathedrale eingekleidet und sie gewinnt ihre endgültige Gestalt. „Sie war bereit wie eine Braut, die sich für ihren Mann geschmückt hat“ (Apk 21,2).
Fast. Denn noch klafft ein immenses Loch im Bau, das aber schon im Begriff ist, geschlossen zu werden: Die Westfassade mit ihren großartigen Portalen und den Kirchtürmen, die uns nach oben weisen.
Schlußakkord: Westfassade mit Türmen
Sie stellt darum nicht nur eine besondere zeitliche und handwerkliche Herausforderung dar, sondern auch eine finanzielle! Und daß das Geld oft ausgegangen ist, sieht man ja an den Türmen, die oft ein Torso geblieben sind. Ein Märchen ist es allerdings, daß die gotischen Kathedralen generell nie fertig wurden bzw. daß man viele Jahrhunderte an ihnen gebaut hat.

Hier nur nebenbei erwähnt: Zwei werden es sein, nicht mehr, nicht weniger. Denn in der Zeit der Gotik hat sich bereits das Doppelturmschema als klassisch herausgebildet. Wir kennen es nicht anders, darum wirkt es so selbstverständlich auf uns. Ein Blick über die Kirchen und Zeiten zeigt uns aber: es gibt auch ganz andere Lösungen. Zunächst gab es nämlich gar keinen Turm: Die spätantiken christlich-römischen Basilikal-Kirchen hatten nicht einen einzigen.