Vorlauf
Die Geburtsstunde der Gotik liegt in einer geschichtlich sehr bewegten Zeit.
Nach einer Phase des Niedergangs im 9. und 10. Jahrhundert (verheerende Invasionen durch Wikinger, Magyaren und Sarazenen) blüht Mitteleuropa neu auf und ein wahrer Bauboom (Romanik) setzt überall ein, der auch Hand in Hand geht mit einer aufstrebenden Entwicklung des Handwerks. Steht man vor einer aufstrebenden gotischen Kathedrale, sollten wir uns vor unserem geistigen Auge nicht nur die zeitgenössische Kulisse (wie gleich dargelegt) aufbauen, sondern uns auch vergegenwärtigen, welcher lange Weg schon hinter ihr liegt. Vieles an handwerklichem Können und an allgemeiner Infrastruktur mußte nämlich erst wieder neu errungen werden.
Durchaus bemerkenswert ist auch (ohne Autos und Emails) das hohe Maß an Mobilität (und damit auch an Kommunikation) der Pilger und Handwerker, der Händler und Gelehrten, der Könige und Bischöfe. Der Kirchenbau wirkt wie ein Motor bzw. ein Katalysator für eine Vielzahl menschlicher Lebensfelder.
Der unmittelbare historische Kontext ist geprägt durch den Investiturstreit zwischen Kirche und Staat, zwischen Papst und Kaiser, der Europa so lange erschütterte, bis er 1122 zu Worms mit einem Kompromiß beigelegt werden konnte. In der französischen Krondomäne, damals nicht viel mehr als die Ile-de-France, regiert Ludwig VI. als König (+ 1137).
Die zuvor mit dem Kronprinzen Ludwig VII. verheiratete Eleonore von Aquitanien vermählt sich 1152 mit dem Normannen Heinrich II. Plantagenêt, Graf von Anjou und Herzog der Normandie. Sie avanciert damit zur mächtigsten Frau ihrer Zeit und regiert über ein blühendes Reich, das – nachdem Heinrich die englische Krone empfängt – von Schottland bis an die Pyrenäen reichen wird; man nennt es das Angevinische Reich.
In Deutschland dagegen beginnt das Geschlecht der Hohenstaufen seine Herrschaft anzutreten. Übrigens: Das ferne Bagdad ist als blühende Drehscheibe von Bildung und Handel längst eine Millionenmetropole. In Jerusalem herrschten christliche Könige, aber der Zweite Kreuzzug scheitert. Byzanz ist weiterhin eine politische und kulturelle Großmacht.
Die von Cluny geförderte Wallfahrt nach Santiago de Compostela ist in voller Fahrt, immer noch entstehen entlang dieses Weges Kirchenbauten, die wir bis heute bewundern. Von Nordspanien aus hat die Reconquista begonnen. Es ist die große Zeit eines Bernhard von Clairvaux und einer Hildegard von Bingen.
In der Toskana treffen wir auf die sogenannte Proto-Renaissance, während man 1135 durch das romanische Königsportal in die Fulbert-Kathedrale zu Chartres eintritt. In Cluny steht der größte Kirchenbau des katholischen Europa (die Weihe des Hochaltars der romanischen Klosterkirche Cluny III fand 1095 statt), während im altehrwürdigen Regensburg die erste steinerne Brücke über die Donau geschlagen wird. In Norditalien sind Geldwechsler und -verleiher dabei, eine Vereinigung zu gründen. Es ist die Zeit des Frühkapitalismus. Bald entstehen die ersten Banken. Und so manches Fachwort wird dabei aus dem Arabischen entlehnt (etwa der Scheck). Im christlichen Toledo werden von Juden, Arabern und Christen Schriften übersetzt, es ist eine Drehscheibe des geistigen Austausches zwischen Orient und Okzident. Im Abendland wird der Koran ins Lateinische übertragen (umgekehrt das Neue Testament auch ins Arabische?).
Thierry lehrt an der berühmten Schule zu Chartres, einer „internationalen“ hohen Schule mit Schülern aus ganz Europa, während u.a. die Drei-Felder-Wirtschaft die landwirtschaftlichen Erträge steigert. Im Anschluß an die Heilige Messe entwickeln sich manche Märkte zur „Messe“, die bedeutendsten Warenmessen findet man über Jahrzehnte hin in der Champagne. 1150 wird die Universität von Paris gegründet.
So treffen wir also auf eine erstaunliche Zeit technischer Innovationen in Landwirtschaft, Technik und Kultur mit einer Lust am Fortschritt, die uns geradezu modern anmutet. Das Mittelalter ist vielleicht gar nicht so, wie manche es vermuten oder haben wollen.
Dieser Aufbruch in Europa hat so manche Grenze überschritten (doch auch geachtet): räumliche in den Ausmaßen, technische in neuen konstruktiven Lösungen, aber auch politische und geographische Grenzen sowie solche in Logistik und Mobilität. Ermöglicht wurde das nicht zuletzt durch die Herkunft Europas! Vergangenheit ist ja nie nur Last, sondern immer auch Chance.
Eine gotische Kathedrale erzählt uns also nicht nur etwas über künstlerische Schulen oder Heiligenleben! Sie erzählen auch über dieses Netzwerk des menschlichen Seins mitsamt auch all dieser handwerklichen und (finanz-)wirtschaftlichen Grundlagen. Stumm zwar, doch für den aufmerksamen Zuhörer unüberhörbar. Wirtschaftliche und (kunst-)handwerkliche Entwicklungen greifen mit verschiedenen gesellschaftlichen und geistigen Prozessen ineinander!